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THE WILLMAR 8




Die zentrale Konfliktsituation in Lee Grants Dokumentarfilm The Willmar 8 (1980) ist ein von acht weiblichen Bankangestellten in Willmar, Minnesota durchgeführter Streik gegen ihren Arbeitgeber, die Citizens National Bank, der ihnen Gehaltserhöhungen und berufliche Aufstiegschancen verweigert. Der Film ist daher mit einem gesellschaftlichen Problem befaßt, das bis in die Gegenwart ungebrochen relevant ist: die immer noch mangelhafte Gleichstellung und Gleichbehandlung von Frauen im Alltag und im Berufsleben.
Doch die nach wie vor vorhandene Aktualität ist nur einer von vielen Gründen, den Film einer ausführlichen Analyse zu unterziehen. Der Film beschreibt eine ebenso konkrete wie repräsentative Konfliktsituation der USA der späten 70er Jahre, in der die Antagonisten Befürworter und Gegner sozialen Wandels sind. Obgleich das skizzierte Problemfeld nicht spezifisch US-amerikanisch ist, verspricht eine Betrachtung unter spezifisch amerikanischen Bedingungen wie der besonderen Streikkultur amerikanischer Gewerkschaften, Berichterstattung der Massenmedien und der innergesellschaftlichen Mechanismen und Wechselwirkungen interessante Ergebnisse. Es ist in diesem Zusammenhang mehr als fraglich, ob ein Dokumentarfilm außerhalb der USA einen derartigen Lawineneffekt erzeugen kann, wie er in Kapitel 4 beschrieben wird. In filmhistorischer Sicht kann The Willmar 8 als Vertreter eines klassisch US-amerikanisches Genres, nämlich als feministischer Streik- und Arbeiterfilm betrachtet werden. Die modellhafte Untersuchung von The Willmar 8 ist aus diesem Grund geeignet, Erkenntnisse über Machart und Wirkungsweise eines ganzen Filmgenres zu liefern. Zudem vereinigt der Film nicht nur Elemente aus verschiedenen Dokumentarfilmtypen, sondern macht sich auch die Mittel des fiktionalen Films zunutze, so daß sich anhand seines Status als hybrider, vielschichtiger Text fundamentale Probleme, die mit der Produktion und Wirkung eines Dokumentarfilms verbunden sind, modellhaft herausarbeiten lassen.
The Willmar 8 dokumentiert die Durchführung eines Streiks, den acht weibliche Angestellte der Citizens National Bank – Glennis Andresen, Irene Wallin, Doris Boshart, Sylvia Erickson, Teren Novotny, Sandi Treml, Jane Harguth und Shirley Solyntjes – aus Willmar, einer Stadt im Südwesten des US-Bundesstaates Minnesota, am 16. Dezember 1977 begannen. In Minnesota hatte es nie zuvor einen Streik im Bankgewerbe gegeben. Anlaß für den Ausstand war die gegenüber den Frauen gestellte Forderung des Bankpräsidenten Leo Pirsch im Oktober 1976, einen neuen männlichen Angestellten für eine leitende Position auszubilden. Es handelte sich um Kevin Bostrum, einen jungen Mann mit wenig Berufserfahrung und einem Hochschuldiplom für Management-Ausbildung. Hierdurch wurde den Frauen, dies betrifft konkret Irene Wallin und Doris Boshart, zum wiederholten Mal ihrer langjährigen Berufserfahrung zum Trotz eine solche Position verweigert. Im November 1976 reichten alle weiblichen Angestellten der Bank eine Sammelklage (class-action suit) wegen Geschlechterdiskriminierung vor der Equal Employment Opportunity Commission (EEOC) ein. In der Erkenntnis, daß sich die Bearbeitung der Klage über Jahre hinziehen konnte, bat die gesamte Gruppe die Leitung der Bank um höhere Gehälter und die Möglichkeit beruflicher Aufstiegschancen. Die ablehnende Reaktion des Präsidenten, der mit den Worten "We're not all equal you know" zitiert wird, brachte die Frauen dazu, im Februar 1977 die Gründung einer eigenen, unabhängigen Gewerkschaft zu beschließen. In den Folgemonaten versprach die Bank den Frauen bessere Behandlung, bessere Jobs und Kredite für ihre Familien für den Fall, daß sie auf die Gründung einer Gewerkschaft verzichteten. Dies erfüllte den Tatbestand eines Verstoßes gegen das Bundesarbeitsgesetz (unfair labor practice). Im Mai 1977 wurde durch eine Abstimmung unter den Bankangestellten die Gründung der Willmar Bank Employees Association, Local 1 offiziell beschlossen, die von nun an die Interessen der Angestellten vertreten sollte. Im Sommer und Herbst 1977 fanden zwischen Gewerkschaftsvertretern und der Bank Verhandlungen statt, aber keine der Streitfragen konnte beigelegt werden. Nach einem halben Jahr erfolgloser Verhandlungen über Gehaltserhöhungen und Aufstiegsmöglichkeiten brachten die Frauen eine Klage wegen Verstoßes gegen das Bundesarbeitsgesetz vor das National Labor Relations Board und traten in den Streik. Dieser wurde vom NLRB als wirtschaftlicher Streik eingestuft: bei einem NLRB-Urteil zugunsten der Bank wäre diese nicht verpflichtet gewesen, den Streikenden ihre Arbeitsplätze zurückzugeben und hätte sie durch andere Arbeitskräfte ersetzen können.
Der zuständige NLRB-Richter stellte fest, daß im Frühjahr 1977 in der Tat Verstöße stattgefunden hatten; jedoch konnten sie wegen eines Verfahrensfehlers nicht geahndet werden, denn die Frauen hatten die Frist von einem halben Jahr überschritten, während der die entsprechende Klage eingereicht werden mußte. Hierdurch büßten sie das Recht auf Gehaltsrückzahlung und Wiedereinstellung ein. Im Februar 1978 legten die Frauen gegen das Urteil Berufung ein. Bis zur Verkündung des neuen Urteils ging der Streik weiter, und die Bank vergab die vakanten Stellen an andere Frauen.
Trotz der Unterstützung durch Eltern und Partner wurden die Frauen der "Willmar-8"-Gewerkschaft abhängig von Spendengeldern. Der Streik weckte landesweit Interesse, wie an der Medienresonanz erkennbar war. Regional wie überregional erscheinende Zeitungen und Magazine (Washington Post, Los Angeles Times, Ms., People, etc.) berichteten über die "Willmar 8". Glennis Andresen und Irene Wallin traten sogar in Phil Donahues Fernsehshow auf und schilderten ihren Fall. Jedoch erwies es sich nicht nur für die Gewerkschaften sowie für den Gewerkschafts-Dachverband AFL-CIO als problematisch, den Frauen die notwendige moralische und finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. In dem vom Einfluß der Kirchen stark geprägten Willmar betrachtete die Mehrzahl der Bürger den Streik als Akt der Insubordination, da er die traditionelle untergeordnete Stellung von Frauen in der Gesellschaft in Frage stellte. Diese feindselige Haltung wird u. a. dadurch belegt, daß die Frauengruppe beim Streikpostenstehen unter sich blieb und innerhalb des Ortes weder Zuspruch noch finanzielle Hilfe erhielt. Wenn sich Willmars Bürger überhaupt zum Streik äußerten, taten sie dies in der Regel ablehnend.
Im März 1979 schließlich veröffentlichte das National Labor Relations Board endlich eine Entscheidung, die erneut negativ für die Streikenden ausfiel. Nur eine der Frauen, Doris Boshart, wurde im September 1978 - unabhängig vom NLRB-Urteil - wieder eingestellt. Das Urteil, das das NLRB in zweiter Instanz fällte, wurde 1980 vom US-Berufungsgericht (US Circuit Court of Appeals) bestätigt.
Diese Ereignisse waren der bekannten Schauspielerin Lee Grant wichtig genug, um einen Film darüber zu drehen. Was zunächst nach dröger Materie und langwieriger Prozedur klingt, hat, was jene, die The Willmar 8 nicht kennen, überraschen mag, einen sehr lebendigen, parteinehmenden und auch emotionalen Film ergeben. Er ist einerseits alles andere als langweilig, andererseits fordert er dem Betrachter zweierlei ab: er bringt viele Informationen in knapp 50 Minuten Laufzeit unter, und er sorgt für eine Involvierung des Zuschauers, der sich dieser kaum zu entziehen vermag. The Willmar 8 ist nicht nur ein Film über acht Frauen und ihren Streikalltag, sondern informiert auch mittels von der Filmemacherin geführten Interviews über persönliche Hintergründe der handelnden Personen. Ebenfalls durch Interviews und durch begleitenden Kommentar wird das soziale Umfeld, in dem der Streik stattfand, sowie die Art der Unterstützung der Gewerkschaften beschrieben. Ein wichtiges Kennzeichen des Films ist, daß er, unabhängig vom politischen Standpunkt des jeweiligen Betrachters, nicht mißverstanden werden kann. Daher rückt die appellative Struktur von The Willmar 8 ins Zentrum der filmanalytischen Untersuchung: mit welchen Mitteln wird der Betrachter angesprochen, beeinflußt oder gar manipuliert?
Daß zu The Willmar 8 bislang wenig wissenschaftliche Literatur existiert, stellt einerseits einen Mangel, andererseits auch eine Herausforderung dar. Die Rezensionen aus Variety, New York Times und Los Angeles Times gehen über feuilletonistische Allgemeinplätze kaum hinaus. In den wenigen vorliegenden Zeitschriftenartikel (z.B. aus Newsday, In These Times) sind die Autoren hauptsächlich mit den Produktionsbedingungen des Films befaßt. Ebenso bietet das mit der Filmemacherin von Studenten des American Film Institute's Center for Advanced Film and Television Studies geführte Gespräch, das 1990 in Interview-Form veröffentlicht wurde, wichtige Hintergrundinformationen, ohne jedoch Ansätze für eine differenzierte Analyse zu bieten.
Methode
Die vorliegende Arbeit versucht sich sowohl an einer umfassenden und detaillierten Filmanalyse als auch an einer ausführlichen Darstellung der gesellschaftlichen und filmtheoretischen Kontexte, wobei alle drei Sektoren einer systematischen Filmanalyse, Produktions-, Produkt- und Wirkungsanalyse, Berücksichtigung finden und ineinander greifen. Bei der Auswertung des vorliegenden Materials über die Konzeptions- und Drehphase liegt das Hauptaugenmerk darauf, inwiefern der Gegenstand des Films seine Machart determiniert. Die hier dank einer diesbezüglich guten Quellenlage ermittelten Ergebnisse werden im Rahmen der Filmanalyse erweitert und vertieft. Auf der Grundlage der Prämisse, daß ein Dokumentarfilm prinzipiell das Anliegen hat, in gesellschaftliche Verhältnisse einzugreifen und sie zu reformieren, wird ermittelt, wie in The Willmar 8 argumentiert wird und was der Film in seinem Inhalt und seiner Form transportiert. Die Erforschung der Wirkung und Rezeption erfolgt, ebenfalls durch Auswertung der verfügbaren Sekundärliteratur, unter der Leitfrage, inwieweit es The Willmar 8 den Zuschauerreaktionen zufolge gelungen ist, ein gesellschaftliches Klima des Wandels einzufangen und einen Beitrag für die Verbesserung der Stellung von Frauen in der amerikanischen Gesellschaft zu leisten.
Mehrere methodische Probleme mußten im Zuge der Auswertung des Films und der Literatur gelöst werden. Zunächst bestand die Aufgabe in der Trennung der Wirklichkeit vom Argumentativem im Dokumentarfilm. Dies war möglich durch Vergleich der Quellen, namentlich Artikel in Zeitschriften und Begleitheft (Resource Manual) des Verleihs, mit dem Film. Diese sind möglicherweise auch parteiisch bzw. der Sache der "Willmar 8" gegenüber wohlwollend eingestellt, haben aber nicht die Mittel des Films zur Verfügung, mit denen er manipuliert und beeinflußt. Damit eng verbunden ist das Problem der Chronologie in The Willmar 8. Der Film hält sich zwar an die Reihenfolge der Ereignisse, dokumentiert sie jedoch auf unterschiedliche Weise und rafft die "Vorgeschichte" sehr stark, da die Kamera nur über einen vergleichsweise kurzen Zeitabschnitt präsent war. Die Aufarbeitung der "Vorgeschichte" durch Verwendung von Archivmaterial, Erzähler- und Personenrede mußte daher zu einem wesentlichen Bestandteil der Analyse werden. Da außerdem der Film nicht eindeutig einem bestimmten Genre zuzuordnen ist, bestand die Notwendigkeit, seine Stellung zwischen Streikfilm und feministischen Film zu problematisieren.
Vorgehen
Im einzelnen wird wie folgt vorgegangen: In Kapitel 2 erfolgen Exkurse in zeitgeschichtliche Hintergründe, namentlich die Entwicklung der Arbeiter- und der Frauenbewegung in den USA. Kapitel 3.1. ordnet The Willmar 8 in eine Typlogie des amerikanischen Dokumentarfilms ein und liefert filmtheoretische Hintergrundinformationen; gefolgt von der Rekonstruktion der Entstehung des Films in Kapitel 3.2. In Kapitel 5 werden Reaktionen auf den Film in den Medien eingefangen und die Art und Weise seiner "Verwertung" und Verwendung nachgezeichnet. Ein weiterer Schwerpunkt liegt hier auf der feministischen Filmkritik und -theorie, deren Diskussion durch einen Vergleich mit thematisch und stilistisch verwandten Dokumentarfilmen zusätzlich illustriert wird. Das Schlußkapitel faßt den Gang der Argumentation zusammen und leistet eine zusammenfassende Evaluierung.


The Willmar 8 - Die Analyse eines feministischen Streikfilms, entstanden zwischen 1998 und 2000, sollte im Wissenschaftlichen Verlag Trier erscheinen. Die Reihe "Studien zum Amerikanischen Dokumentarfilm" wurde jedoch eingestellt, und so liegt das Werk nur als unveröffentlichtes Manuskript vor. Das Einführungskapitel ist oben abgedruckt. <BR> <DIV> <H5><A HREF="../index.html">Main</A></H5> <H5><A HREF="../film-main.html">Publications & Projects</A></H5> <H5><A HREF="../contact.html">Contact</A></H5> <H5><A HREF="../introtext.html">Introduction</A></H5> </DIV>